Der „Untergang des Abendlandes“ ist ein geflügeltes Wort in rechten Kreisen. Geprägt wurde es von Oswald Spengler, Deutschnationaler, Feind der Weimarer Republik und des Versailler Vertrags, der darüber ein ganzes Buch geschrieben hat. Darin entfaltet er seine esoterisch-naturalisierende, anti-aufklärerische und autoritäre Geschichtsbetrachtung, nach der jede (homogen gedachte) Hochkultur in einem zyklischen Prozess aufsteige und vergehe. In der Zeit nach dem ersten Weltkrieg und vor dem Hintergrund des Versailler Vertrags übte Spenglers Ideenwelt großen Einfluss aus und trug nicht zuletzt zur zunehmenden Salonfähigkeit des Antisemitismus bei. Es prägt die intellektuelle Rechte bis heute und ist dabei ein Buch, das durchaus auch in (rechts-)konservativen Kreisen wohlwollend aufgenommen wird. Unvergessen ist mir eine Vorlesung aus meinem kurzen Ausflug in die Geschichtswissenschaft, als ein Dozent in der Eröffnungsvorlesung betonte, man müsse Spenglers prophetischen Gehalt anerkennen und ihn unvoreingenommen lesen. Zwar mögen manche seiner Erwartungen eingetroffen sein, ob das aber eine eher unkritische Auseinandersetzung mit einem derart autoritär denkenden, nationalistischen Denker rechtfertigt, sei mindestens dahingestellt.
Fest steht aber: Spengler ist ein Mann, mit dem man sich beschäftigen sollte, wenn man das Denken der heutigen sogenannten „Neuen Rechten“ besser verstehen möchte. Dass er in den 1920ern gemeinsam mit anderen Verschwörern die Lenkung der Presse von rechts durchsetzen wollte, um darüber einen Einstellungswechsel in der Bevölkerung zu erreichen, erinnert von der Strategie frappierend an heutige rechtsintellektuelle Versuche, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Dieser Versuch steht im Zentrum des außergewöhnlichen Romans „Vom Untergang“ Von Leonhard F. Seidl. Dieser hat bereits einige politische Kriminalromane verfasst und legt mit diesem Roman nun pünktlich zum hundertsten Todesjahr des liberalen Politikers Walther Rathenau, der von einer rechtsradikalen, militanten Bürgerwehr ermordet wurde, einen Einblick in diese hisotrisch so turbulente und gewalttätige wie spannende Zeit vor.
In diesem Kriminalroman, in dem das „kriminal“ weniger im Zentrum steht, sondern stattdessen ein dicht gewebtes Portrait der Weimarer Republik, verfolgen wir also die politische Verschwörung zur Lenkung der Presse, erhalten dabei Einblicke in den Kopf des selbsternannten Propheten Spengler (wofür Seidl u.a. Tagebücher aus dessen Nachlass nutzt) und können so den Menschen greifen, ohne ihn deshalb sympathisch finden zu müssen.
Ein weiteres Thema des Buchs sind die sich zuspitzenden politischen Auseinandersetzungen, Straßenkämpfe und politischen Morde der auseinanderdriftenden Weimarer Republik. Auch die innerlinken Kämpfe sind Thema: Wir treffen auf den heute fast vergessenen Fürther Anarchosyndikalisten Fritz Oerter, blicken in die Arbeiterstreiks und kommunistisch-sozialistisch-anarchistischen Streitlinien.
Ein historischer Roman im besten Sinne, bei dem viele historische Quellen, von Gerichtsakten und Verhörprotokollen über Tagebucheinträge und Zeitungsartikel – an den Plot angepasst, vom Sinn her aber nicht verändert – eingewebt werden und die das Buch damit auch zu einer lehrreichen und anschaulichen Lektüre machen. Dabei stehen der historische Plot und die realen historischen Figuren im Fokus. Die dazuerfundenen Charaktere wie die fiktive Tochter Oerters, Emma, oder der Spiegelfabrikant Gumbrecht, tragen durch die Handlung, sind aber eher Mittel zum Zweck, um uns Leser*innnen in die Handlung hineinzutragen und im Vergleich zur Atmosphäre des Buchs weniger ausgearbeitet. Mich störte das nicht, ich kann mir aber vorstellen, dass das je nach Geschmack anders ist. Da das Buch mit seinen knapp 250 Seiten sehr dicht gewebt ist, sind historische und politische Vorkenntnisse mit Sicherheit hilfreich, aber auch sonst ist es eine sehr empfehlenswerte Lektüre. Der Roman ist spannend, informativ und macht Kontinuitäten bspw. rechten Denkens ebenso deutlich wie die innerlinker Kämpfe. Und wen das noch nicht überzeugt hat: Die Katze im Roman heißt Mühsam.

Ich durfte das Buch als Rezensionsexemplar lesen.
Und wer sich mehr in die Person Spenglers und auch anderer antiliberaler Denker seiner Zeit einlesen möchte: Unter https://gegneranalyse.de/ hat das Zentrum Liberale Moderne ein Projekt ins Leben gerufen, in dem einige der wichtigsten Personen vorgestellt werden.