Rezension

Wie der Anschlag von Hanau bis heute nachwirkt: Said Etris Hashemi – Der Tag, an dem ich sterben sollte

Der 19. Februar 2020 war der Tag, an dem 9 Menschen aus rassistischen Gründen ermordet wurden: Hamza, Ferhat, Gökhan, Mercedes, Kaloyan, Fatih, Vili, Sedat und Nesar. Es hätten noch einige mehr sein können, denn der Täter verletzte weitere Personen – darunter Said Etris Hashemi. Im Gegensatz zu seinem Bruder Nesar und einigen seiner Freunde überlebte er den Anschlag von Hanau schwer verletzt. Traumatisierend genug war es trotzdem, nicht zuletzt, wegen der vielen Versäumnisse, Fehler und schlecht versteckten Rassismen des Polizeieinsatzes und der anschließenden Ermittlungen.

Er ist aktiv in der Initiative 19. Februar Hanau, setzte sich mit den anderen Hinterbliebenen (leider erfolglos) für eine lückenlose staatliche Aufklärung des Anschlags im Rahmen eines Untersuchungsausschusses ein, klärt über rechten Terror und Rassismus auf und engagiert sich für eine Gesellschaft, in der die Opfer von Hanau nicht als Fremde wahrgenommen werden.

In „Der Tag, an dem ich sterben sollte“ verbindet Hashemi sehr persönliche Einblicke in sein Aufwachsen, seine Erlebnisse des Anschlags und die Veränderungen, die Hanau für ihn, seine Familie und seine Freund*innen mit umfassender Gesellschaftskritik. Er berichtet von der schleppenden Aufklärung, von Gutachten, die die Hinterbliebenen anstreben mussten, um überhaupt bestimmte Erkenntnisse zu gewinnen, vom polizeilichen Umgang mit den Opferfamilien als potentielle Täter*innen, die den rassistischen Vater des Täter bedrohen könnten (obwohl der umgekehrt seit Jahren die Familien belästigt und bedroht). Er kritisiert die versäumte Chance, im Untersuchungsausschuss wenigstens ernsthaft zu versuchen, Fehler aufzuarbeiten um daraus künftig zu lernen. Das Buch macht wütend und traurig zugleich, traurig vor allem auch, weil Said Etris Hashemi mit so viel Liebe über seinen Bruder und seine Freund*innen spricht.

Und trotz all dem ist dieses Buch eines, das Hoffnung macht, das den wichtigen Zusammenhalt der migrantischen Communities betont, das sich fürs Weiterkämpfen ausspricht und die Angehörigen nicht als reine Opfer positioniert, sondern die unglaubliche Stärke und den Mut verdeutlicht, mit dem sie für Gerechtigkeit kämpfen – und das, obwohl jeder Frust, jeder Ärger mehr als nachvollziehbar wäre angesichts einer Gesellschaft, die sie und die Opfer des Anschlags im Stich gelassen hat.


Besonders bitter ist, dass Said Etris Hashemi, das wird im Buch deutlich, eine beeindruckende Person ist. Und es ist zynisch, dass das gerade dort deutlich werden musste, wo er um Gehör bittet, wo er und die anderen Familien immer wieder nicht ernst genug genommen werden. Denn es kann und sollte nicht die Aufgabe eines Anschlagsopfers sein, um Gerechtigkeit kämpfen zu müssen und es wäre zu wünschen gewesen, dass er diesen Anschlag und den Verlust nicht hätte erleben müssen.
Deshalb sollte das Buch gerade von denen gelesen werden, die bisher noch leise sind. Die als Teil der Mehrheitsgesellschaft kein Problem darin sahen, dass einen Tag nach Hanau fröhlich Karneval gefeiert wurde, die den Anschlag zwar schlimm fanden, aber sich denken „ja naja, sowas passiert, damit haben wir nichts zu tun“. Doch, haben wir. Denn der Anschlag in Hanau war zwar ganz dezidiert kein Angriff auf „uns alle“, sondern auf Menschen, die für den Täter aus rassistischen Gründen nicht dazugehörten. Die Frage, ob dieser Angriff aber als Angriff auf einen Teil unserer Gesellschaft verstanden wird, ist zentral für die Frage, ob man für eine plurale Gesellschaft einstehen möchte oder nicht.
Große Leseempfehlung!

Said Etris Hashemi – Der Tag, an dem ich sterben sollte // Erschienen am 3. Februar 2024 // Hoffmann und Campe Verlag // 224 Seiten // € 23,00

Ich habe das Buch als Rezensionsexemplar gelesen.