Rezension

Aufwachsen zwischen Ostalgie und Wendehoffnung: Hendrik Bolz – Nullerjahre

Hendrik Bolz kennt man eventuell besser als Testo, Teil des linken Rapduos Zugezogen Maskulin. Eine Band, deren Debütalbum vor fast 10 Jahren bei mir rauf- und runterlief. Bolz wuchs in der Gegend von Stralsund, also in Ostdeutschland kurz nach der Wende, auf. Über dieses Aufwachsen, das geprägt war von der Ernüchterung über das Ausbleiben des versprochenen Wirtschaftswachstums und der Integration in die BRD, schreibt Bolz in „Nullerjahre — Jugend in blühendem Landschaften“. Einem Buch, bei dem ich euch definitiv die Hörbuchversion empfehle, die er selbst eingelesen hat.

Es geht um zerfallende Lebensrealitäten ohne neue Sicherheiten, Perspektivlosigkeit und unfreiwilliges Alleinsein der Kids, da die Erwachsenen mit ihrem sozialen Abstieg beschäftigt waren. Es geht um das Aufeinandertreffen von Westkultur (von Toten Hosen über Techno-Exzess bis EMP) mit einem noch immer rigiden Erziehungssystem, das zwar nun nicht mehr den sozialistischen Nachwuchs hervorbringen sollte, aber immer noch auf Einschüchterung und Eingliederung setzte. Es geht um die Selbstverständlichkeit neonazistischer Gangs und die Landgewinne der NPD, um die Selbstverständlichkeit von Gewalt und Dominanz und den scheinbaren Ausweg, den Alkohol und Drogen boten. Das alles beschreibt Bolz oft nüchtern, oft mit bitterem Sarkasmus und verwebt dabei die Erinnerung an sein eigenes Aufwachsen mit den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen. Daneben ist es aber auch eine Coming of Age-Erzählung, in der der Autor die Stimmung seiner Generation einfängt und für die Leser*innen (bzw. in meinem Fall Hörer*innen) durch die Einstreuung diverser Musikzitate von MIA bis Bushido greifbar macht. Damit zeigt er die Relevanz von Musik und Kultur auf und eben auch, warum bestimmte Musik sich in bestimmten Kontexten besonders durchsetzen kann.

„Nullerjahre“ ist hart und eindringlich, und zwar nicht nur weil Bolz‘ Beschreibung der Postwendejahre, der Baseballschlägerjahre, die vielen Gewaltmomente ungeschönt darstellt. Sondern weil er sich selbst nicht von Kritik ausnimmt und beschreibt,wie er selbst Gewalt anwendet, abstumpft, Sexismus reproduziert.

Das Buch beginnt mit einem eindringlichen Vorwort,  in dem Bolz reflektiert und erklärt, warum er die massiv rassistische, abelistische, homophobe und in so ziemlich jeder anderen Art und Weise diskriminierende Sprache reproduzieren muss, um eine annähernd realistische Beschreibung zu ermöglichen. Es endet mit einem Epilog, Jahre, nachdem er nach Berlin gezogen ist und die Kontakte aus seiner Jugend abgebrochen hat. Beides hat mir Gänsehaut verursacht, was ich nicht schreibe weil ich mich daran so ergötzt habe, sondern weil einiges an Mut dazugehört, als linker Rapper eine solche Biografie offenzulegen. Und weil es gleichzeitig viel mehr solcher Erzählungen braucht, um begreiflich zu machen, wie die Nachwendezeit sich für viele Menschen in Ostdeutschland angefühlt hat.

Nicht, weil das Rechtsextremismus und co. entschuldigt, aber weil westdeutsche Überheblichkeit eben auch nicht weiterbringt. Bolz ruft mit seinem Buch nicht dazu auf, dass andere über sein Leben urteilen, sondern er lädt ein zum Dialog zwischen unterschiedlichen Lebensrealitäten. Und gerade als in Westdeutschland aufgewachsene Person, die bei jedem Besuch in den „neuen Bundesländern“ schlucken muss darüber, wie krass man diese Perspektivlosigkeit oft immer noch spürt und die selbst als linke Jugendliche vermeintlich progressive Ossiwitze gemacht hat, ging mir das Buch nahe, ohne, dass mir Bolz die Möglichkeit gegeben hätte, mitleidig auf „die armen Ossis“ herabzuschauen. Das schiebe ich sehr stark auf seine nüchterne Beschreibung, durch die ich das Hörbuch öfter pausieren musste, um zu verarbeiten, was gerade geschildert wurde. Und gleichzeitig differenziert er eben trotzdem auch aus, sodass kein eindimensionales Schwarzweißbild entsteht. Das Buch beinhaltet sehr viele Grautöne und lebt von der Ambivalenz. Ich könnte noch mehr schreiben, aber: lest bzw. hört das Buch einfach. Es ist richtig, richtig wichtig.

Hendrik Bolz – Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften // Erschienen am 10. Februar 2022 // Kiepenheuer & Witsch // 352 Seiten // € 14,00 als Taschenbuch

Ich habe das Hörbuch selbst gekauft.