Rezension

Drängt zur Reflexion eigener Moralvorstellungen: Ayelet Gundar-Goshen – Löwen wecken

Der Neurochirurg Etan setzt sich überarbeitet hinters Steuer, um beim Heizen durch die israelische Negev-Wüste Stress abzubauen – und überfährt dabei einen unregistrierten eritreischen Migranten. Wenn er sich stellt, ist der Job weg, für den er mit seiner Frau Liat und den gemeinsamen Kindern aus der Stadt ins ländliche Israel gezogen ist. Doch niemand wird den illegal eingereisten Eritreer vermissen, wenn er Fahrerflucht begeht- oder?
Zumindest nicht, bis dessen Frau vor Etans Tür steht und ihm ein Angebot macht. Und zu allem Überfluss ist Etans Frau Liat auch noch Polizeibeamtin…

Das zu Handlungsbeginn aufgeworfene Dilemma allein ist schon so kontrovers wie interessant. Doch insbesondere durch ihre Fähigkeit, ambivalente Figuren zu schaffen und die israelische Gesellschaft in all ihren Widersprüchen, Errungenschaften wie Diskriminierungen zu porträtieren, wird „Löwen wecken“ von Ayelet Gundar-Goshen, übersetzt von Ruth Achlama, so gut. Denn die Autorin lässt uns Leser*innen nicht mit einfachen Antworten davonkommen, lässt uns keinen der Charaktere unvoreingenommen lieben und verweigert gleichzeitig auch die bloße Adressierung von Antipathien. Macht es einen Unterschied für die moralische Bewertung der Leser*innen, was für ein Mensch der Überfahrene war? Welche Seite des bislang unbescholtenen Etan überwiegt für uns? Mit solchen Fragen, die sich unweigerlich aufdrängen, zwingt die Autorin auch zur Hinterfragung eigener Moralvorstellungen.

Die gesellschaftlichen Spannungen werden von ihr zwar anhand einzelner Figuren herausgearbeitet, die sinnbildlich für die einzelnen Gruppen stehen – der ashkenasische Etan, die mizrachische Liat, die eritreische Witwe Sirkit, auch der Beduine Scharaf spielt eine Rolle. Trotzdem wird es nicht plakativ.

An der Figur Etans zeigt die Autorin klug und subtil auf, wie auch verdeckter Rassismus die Gesellschaft prägt. So redet sich Etan immer wieder ein, der Rest der Gesellschaft kümmere sich ja schließlich auch nicht um die illegal eingewanderten Eritreer*innen, bei ihm sei durch den Unfall lediglich die Distanz dazu verlorengegangen. Und gleichzeitig wird er zunehmend mit seinem eigenen Rassismus konfrontiert und gezwungen, sich mit diesem auseinanderzusetzen.
„Löwen wecken“ war bereits mein zweiter Roman der Autorin und auch dieser hat mich wieder in seinen Bann gezogen, herausgefordert und blieb (kleiner Spoiler!) bis zum Schluss ambivalent. Damit gelingt es der Autorin nicht nur, die israelische Gesellschaft kritisch-differenziert und zugleich ohne Dämonisierung darzustellen, sondern auch, das Denken der Leser*innen zu öffnen und zum Aushalten von Widersprüchlichkeit zu zwingen. Von mir gibt es eine ausdrückliche Leseempfehlung.

Ayelet Gundar-Goshen – Löwen wecken // erschienen erstmals 2015, als Taschenbuch am 28.April 2016 // Kein & Aber Verlag // Übersetzt von Ruth Achlama // 432 Seiten // € 16,00

Ich habe das Buch selbst gekauft.